FDP-Chef Dürr im Interview: "Merz hat sich voll auf die Seite der SPD geschlagen"

Christian Dürr ist seit Ende Juni FDP-Chef. Seine Partei hat gerade mit der Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm begonnen. Der 48-Jährige fordert Reformen bei Migration, Bürgergeld und Rente.
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Die Bundesregierung beschließt bis zu 850 Milliarden Euro neue Schulden bis 2029. Für die FDP ein Albtraum. Im Interview mit ntv.de warnt Parteichef Dürr vor rasant steigenden Zinsen und greift Kanzler Merz an - nicht nur wegen des Haushaltes.
ntv.de: Herr Dürr, eine turbulente Woche liegt hinter dem Bundestag, an deren Ende es Aufruhr wegen der Wahl einer Verfassungsrichterin gibt. War es richtig die Wahl abzusagen?
Christian Dürr: Die Wahl von Verfassungsrichtern ist im Grundgesetz so angelegt, dass eine Zweidrittelmehrheit und damit ein möglichst breite, überparteiliche Mehrheit gewährleistet ist. Union und SPD sind offenbar völlig planlos vorgegangen. Mich ärgert, dass sie damit großen Schaden angerichtet und das Vertrauen in die Richterwahl beschädigt haben.
Wenn der Bundestag am Mittwoch 850 Milliarden Euro neue Schulden bis 2029 beschließt, was macht das mit einem FDP-Vorsitzenden, der von außen zusehen muss?
Es geht dabei nicht um mich, sondern um die richtige Entscheidung für unser Land. Diese Schulden werden Folgen haben. Die Zinslast wird sich verdoppeln, von 30 auf 60 Milliarden Euro in den kommenden vier Jahren. Meine Sorge ist, dass die Regierung Merz das vergisst.
60 Milliarden wären mehr als Deutschland im regulären Haushalt für Verteidigung ausgibt.
Für Bildung, innere Sicherheit oder Verteidigung steht dieses Geld dann nicht mehr zur Verfügung. Es belastet ganz konkret diejenigen, die hart arbeiten.
Haben Sie mit Christian Lindner wütende SMS ausgetauscht?
Nein, am Ende akzeptiert man, dass eine Partei wie die CDU anders tickt. Im Wahlkampf sagte Merz noch, man müsse mit dem Geld der Bürger sorgsam umgehen. Jetzt hat er sich voll auf die Seite der SPD geschlagen. Ich möchte Alternativen aufzeigen. Der Posten im Haushalt, der am stärksten wächst, sind die Sozialausgaben. Der Anteil der Mittel, die investiert werden, sinkt sogar im Vergleich zum letzten Jahr. Andersherum wäre es sinnvoller.
Aber gibt es nicht gute und schlechte Schulden? Zum Beispiel wenn man mit Schulden in Verteidigung und Infrastruktur investiert? Sind das nicht sinnvolle Bereiche?
Ja. Wenn das Geld wirklich in echte Infrastruktur und unsere Verteidigungsfähigkeit fließen würde, dann wäre ich sehr zufrieden. Doch es ist der Sozialetat, der am stärksten wächst. Das Geld wird letztlich genutzt, um Reformen des Sozialstaats aussitzen zu können. Das ist ein echtes Problem. In wenigen Jahren werden wir hohe Schulden und Zinsen haben und feststellen: Die Infrastruktur ist immer noch nicht instandgesetzt und der Sozialstaat weiterhin nicht treffsicherer. Das wird die Menschen wütend machen. Und alle, die hart arbeiten, müssen die Schulden und Zinsen zurückzahlen - nicht Lars Klingbeil oder Friedrich Merz.
Treffsicher, das heißt bei der FDP natürlich immer Kürzung.
Treffsicher heißt, Menschen zielgerichtet zu unterstützen. Immer nur mehr Geld in bestehende Strukturen zu geben, ist falsch. Ein gutes Beispiel ist das schwarz-rote Rentenpaket. Der Reformbedarf wird den kommenden Generationen vererbt, statt Änderungen mutig anzugehen. Treffsicher kann auch eine andere Migrationspolitik bedeuten. Einwanderung in den Arbeitsmarkt, statt in den Sozialstaat. Und wenn man die Menschen entlastet, wächst die Wirtschaft. Dann werden mehr Steuern gezahlt und der Haushalt wird entlastet. Manchmal habe ich das Gefühl, diese Grundlagen der Marktwirtschaft werden vergessen. Ich glaube, das macht die Menschen ratlos. Viele Menschen müssen durch steigende Preise selbst den Gürtel immer enger schnallen. Aber die Regierung macht das Gegenteil und verfrühstückt unsere Zukunft.
Jede Regierung muss Prioritäten setzen. Was hätten Sie anders gemacht?
Ich hätte mir gewünscht, die ohnehin schon sehr geringen aber versprochenen Entlastungen würden auch kommen. Zum Beispiel die Senkung der Stromsteuer. Das hat die Regierung versprochen, doch statt Entlastungen kommen neue Belastungen, wenn beispielsweise die Sozialausgaben schuldenfinanziert steigen. Verbraucherinnen und Verbraucher hätten das Geld gut gebrauchen können. Die Handwerksbetriebe ebenso.
Bei der Stromsteuer reden wir über Beträge wie drei bis acht Euro im Monat für eine Familie, je nach Verbrauch. Ist das wirklich so wichtig, um dafür ein Haushaltsloch von fünf Milliarden Euro zu reißen?
Es ist tatsächlich nur eine kleine Entlastung. Aber noch nicht einmal die kommt, sondern stattdessen neue Belastungen. Die Regierung macht mehr Schulden, gibt mehr für Soziales aus, mehr für Verwaltung, die Zinsen steigen. Deshalb brauchen wir mutige Reformen bei den großen Ausgabenposten im Haushalt, damit am Ende auch größere Entlastungen als die Stromsteuer für die Menschen möglich sind.
Das könnte eine Rentenkürzung bedeuten. Der Steuer-Zuschuss zur Rente ist einer der größten Einzelposten im Haushalt. Die Regierung will das Rentenniveau aber bei 48 Prozent stabilisieren.
Da muss ich heftig widersprechen. Bislang ist das nur ein Versprechen der Regierung, das nicht gegenfinanziert ist. Es wird nur mit Schulden finanziert. Die Rentner können nach einem langen Arbeitsleben nur hoffen, dass dieses Versprechen eingehalten werden kann. Wir müssen das Rentensystem generationenfit machen. Zum Beispiel mit einer gesetzlichen Aktienrente. In der Ampel ist die leider nicht mehr gekommen. Aber in dieser Regierung ist davon gar keine Rede mehr. Das bereitet mir Sorge.
Heidi Reichinnek von den Linken sagte in der Haushaltsdebatte, schon der Ampel-Haushalt sei Umverteilung von unten nach oben. Wollen Sie davon noch mehr?
Die Stromsteuersenkung hätte alle Verbraucher entlastet, unabhängig vom Einkommen. Zugleich haben wir in Deutschland bereits historisch hohe Unternehmenssteuern. Das vergisst die linke und grüne Opposition gerne. Das verhindert Investitionen von Unternehmen und deswegen werden hier keine Jobs mehr geschaffen. Nur wenn wir gute Jobs in Deutschland haben, steigen auch die Löhne. Davon profitieren die Arbeitnehmer am meisten.
Das heißt aber auch: Für die neuen Möglichkeiten der Abschreibung und die geplante Senkung der Körperschaftssteuer müssen Sie Schwarz-Rot loben?
Das sind richtige Maßnahmen. Aber vom Umfang her leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nirgendwo in Europa sind Investitionen derzeit so unattraktiv wie in Deutschland. Die Abschreibungen bringen wenig, wenn zugleich die Lohnebenkosten explodieren. Die belasten Unternehmen und Arbeitnehmer gleichermaßen. Stattdessen erkauft sich die Regierung mit Schulden Zeit und verzichtet auf Reformen. Das ist meine Hauptkritik.
Ein schwieriges Thema ist das Bürgergeld. Rund die Hälfte geht an Nichtdeutsche. Ohne die Ukrainerinnen wären es etwa ein Drittel. Wie kann man das lösen?
Wir müssen das System vom Kopf auf die Füße stellen. Es muss leichter sein, nach Deutschland zu kommen, um zu arbeiten, als nach Deutschland zu kommen, um nicht zu arbeiten. Da macht die neue Regierung nichts. Der Fokus muss sein: Wer nach Deutschland kommt, muss arbeiten.
Aber was heißt das für Asylbewerber? Steht die FDP weiter zum individuellen Asylrecht und zum subsidiären Schutz von Kriegsflüchtlingen?
Individuelles Asyl bekommt ohnehin nur ein kleiner Prozentsatz, das ist nicht das Hauptproblem. Das Problem ist die irreguläre Migration. Menschen, die durch Europa reisen und nach Deutschland kommen. Grenzkontrollen sind dabei nur eine Scheinlösung. Wir müssen den Magneten ausschalten. Das klare Signal muss sein: Die Menschen können nicht mehr einfach ins Sozialsystem einwandern. Für die Zeit des Aufenthalts muss es eine Unterkunft geben, aber keine Bargeldleistungen.
Was sagen Sie als Rechtsstaatspartei die Zurückweisung von Asylbewerben an deutschen Grenzen?
Am Ende müssen Gerichte darüber entscheiden. Wir reden aber ohnehin nur von einer ganz geringen Zahl. Symbolik wird das System nicht vom Kopf auf die Füße stellen. Mir ist ein echtes Umsteuern wichtig. Es dauert teils Monate oder Jahre, wenn ein Unternehmer einen Angestellten aus dem Ausland holen will. Jemand, der was leisten will, ranklotzen, hart arbeiten will, dem wird es schwer gemacht. Da liegt das Problem.
Die AfD kritisierte am Mittwoch, dass viele Syrer eingebürgert werden. Aber ist das eine schlechte Nachricht?
Die FDP hat seinerzeit durchgesetzt, dass man den deutschen Pass nur bekommt, wenn man einen Job hat und von eigener Hände Arbeit leben kann, wenn man gut Deutsch spricht und gut integriert ist und nicht antisemitisch auffällig geworden ist. Wir haben in der letzten Regierung das Staatsbürgerschaftsrecht reformiert, so dass nur, wer das erfüllt, als deutscher Staatsbürger willkommen ist. Vorher reichte es, einfach nur lange genug in Deutschland gewesen zu sein, auch wenn man vom Sozialstaat lebte.
In der Generaldebatte am Mittwoch waren sich alle in der Opposition einig, wie furchtbar die ersten zwei Monate Schwarz-Rot mit Kanzler Merz waren. Was hätten Sie gesagt?
Da war im Bundestag viel Gemecker von der Opposition, aber wo sind die Gegenvorschläge? Wo ist das Konzept der Grünen für eine zukunftssichere Rente? Oder der Linken? Oder der AfD? Wo sind die Konzepte für eine Politik, die Energie wieder bezahlbar macht? Links und rechts hat, wie die Regierung auch, keinen Plan, wie man es besser macht.
Der Bundestag hat auch für eine Corona-Enquete-Kommission eingesetzt. Warum haben Sie das nicht bereits zu Ampelzeiten gemacht? Wie bewerten Sie die Maskenbeschaffung von Gesundheitsminister Spahn? Halten Sie einen Untersuchungsausschuss für angebracht?
Die FDP hat sich bereits 2021 für eine Aufarbeitung stark gemacht. SPD und Grüne haben sich dann in der Koalition gegen eine Aufarbeitung der Corona-Pandemie und gegen einen ehrlichen sowie gemeinschaftlichen Aufarbeitungsprozess gesperrt. Die Maskenbeschaffung unter Jens Spahn muss schonungslos aufgeklärt werden - genauso wie die überzogenen Freiheits- und Grundrechtseinschränkungen. In der Gesellschaft sind dadurch nachhaltig große Schäden entstanden, wenn wir nur an Kinder, Familien oder Menschen in Altenheimen während dieser Zeit zurückdenken. Eine Enquetekommission, die nun eingerichtet werden soll, ist unzureichend, denn ihr fehlen die juristischen Mittel - etwa die Einsicht in Akten oder die Vorladung von Zeugen. Deshalb ist ein Untersuchungsausschuss notwendig.
Wie war das für Sie, in dieser Bundestagswoche nur zuhören zu können und nicht selbst etwas sagen zu können?
Das motiviert mich. Wenn die Opposition die Punkte vorträgt, die ich im Kopf habe, hätte ich gedacht: Da gibt es noch welche, die geradeaus gucken können. Aber da kam gar nichts.
Haben Sie schon das neue Grundsatzprogramm der FDP angefangen?
Ja, wir sammeln Vorschläge in einem digitalen System, sodass wir viele Mitglieder und auch externe Experten einbinden können. Wir möchten zudem künstliche Intelligenz nutzen, um die Ideen auszuwerten und Zusammenhänge zu erkennen. Es macht viel Freude zu sehen, wie kreativ die Mitglieder der FDP sind. Wir wollen dieses Vorschlags-Tool dann auch öffentlich für Nichtmitglieder verfügbar machen.
Wie groß ist die Versuchung, einfach bei Chat-GPT einzugeben: Schreibe ein neues Grundsatzprogramm für die FDP?
Die ist nicht groß. Künstliche Intelligenz basiert ja auf Informationen der Vergangenheit. Für neue Ideen brauche ich schon noch die natürliche Intelligenz der Mitglieder der FDP.
Wie läuft denn die Rettungsmission Ihrer Partei?
Keine andere Partei sagt, der Staat solle sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren. Wir wollen einen starken Staat, aber er soll sich nicht verzetteln, wie es unter Schwarz-Rot der Fall ist. Die Umstände sind nicht leicht, klar. Aber es macht Spaß und ich bin mit Freude dabei.
Mit Christian Dürr sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de
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